„Ich will die Welt der Schizophrenie entdecken“

Cheong Kin I, Regisseurin von „The Dress Looks Nice on You“ : „Ich will die Welt der Schizophrenie entdecken“

INTERVIEW Andreia Sofia Silva

„The Dress Looks Nice on You“ [„Neptun“ auf Kantonesisch] ist das neue Stück von Cheong Kin I. Geschrieben vom taiwanesischen Dramatiker Chen Hung-Yang, ist diese Veranstaltung inspiriert von der persönlichen Erfahrung der Regisseurin aus Macau, die sich mit der Spielsucht ihres Vaters befasst. Ein weiteres Thema des Stücks ist Schizophrenie. Nach einer öffentlichen Lesung des Stücks im Oktober findet die offizielle Premiere in Macau im Juni nächsten Jahres im Theater des Antigo Tribunal [*Altes Gericht der Ersten Instanz des postkolonialen Macau] statt. Zwischen dem 19. und dem 22. November wird das Stück „The Dress Looks Nice on You“ in Taiwan vorgelesen.

Inwiefern bestand die Schwierigkeit, im Rahmen des neuen Theaterprojekts erneut auf Familienprobleme einzugehen? Warum haben Sie sich entschieden, dieses Thema erneut aufzugreifen?

Meine Familie spielt in Bezug auf meinen persönlichen Wachstums- und Reifungsvorgang eine bedeutsame Rolle. Neben dem Stück “Rua de Macau” ist dies das zweite Stück, in dem ich über meine Familie berichte. Meine ganze Inspiration stammt von meinem Vater, da er mein Leben immer beeinflusst hat und auch weiterhin beeinflussen wird. Mit der Familie werden wir zu dem, was wir als Menschen sind. In „Rua de Macau – Sabores“ erzähle ich die Geschichte, wie mein Vater sein ganzes Leben lang um sein Überleben i[m damals noch portugiesischen] Macau gekämpft hat, nach seiner illegalen Ankunft vom Festland [Chinas]. „The Dress Looks Nice on You“ ist Teil meiner eigenen Erfahrung. Das Stück steht in starker Verbindung mit meinem Vater. Es erzählt davon, wie seine Glücksspielsucht mich extrem störte und gleichzeitig dazu beigetragen hat, mich als Person zu formen. Ich hatte Angst, dass Schuldeneintreiber zu uns nach Hause kommen würden. Das ist nie passiert, aber oft wusste ich nicht genau, was wirkliche Geräusche waren und welche aus meiner Fantasie stammten. Genau das möchte ich in meinem neuen Stück ansprechen. Zuerst kommt der Audioteil, dann der visuelle Part. Gemeinsam mit meinen Zuschauern möchte ich die Welt der Schizophrenie entdecken.

Wie werden Sie dieses Problem angehen?

In diesem Stück sprechen wir über Schizophrenie in dem Sinne, dass die Vergangenheit vergangen scheint. Aber nein – sie ist doch immer da und wird immer wiederkommen, besonders das Unglück im Leben. Mein Ziel ist es, über dieses Thema sowie den Kern des Theaters tiefer zu diskutieren.

Schaffen wir in einem Theaterstück oder mit einem künstlerischen Werk mehr Leiden oder helfen wir den Opfern, all das loszuwerden, wenn wir uns mit diesen Themen befassen oder über diese Menschen sprechen? – Cheong Kin I

Es fällt mir nicht schwer, ein Familienproblem anzusprechen, vielmehr erschaffe ich eine Geschichte und gestalte meine eigene Erfahrung als künstlerische Kreation.

Warum der Name „The Dress Looks Nice on You“? Hat das Kleid hier eine besondere Symbolik?

Dies bezieht sich auf die Geschichte „Onkel Wackelpeter in Connecticut“ [Uncle Wiggily in Connecticut] des US-amerikanischen Schriftstellers Jerome David Salinger. In dieser Geschichte weinte Eloise, eine der Figuren, weil ihr gesagt wurde, dass in New York niemand die Art von Kleid trägt, welche Eloise gekauft hat. Eloise muss daraufhin weinen, da sie sich für eine gute Frau hält. Ich mag diese Passage sehr. Für mich hängt das Kleid sehr stark mit dem Unterschied zwischen den Geschlechtern zusammen und auch mit dem Vorgang, ein Kleid in etwas Weibliches zu verwandeln. Ich habe dies immer mit Sozialisierung im Allgemeinen in Verbindung gebracht. Eloise verkörpert eine der Figuren im Stück, die so sozialisiert wurde. Aber hier verwende ich das Wort Sozialisierung mit maximaler Höflichkeit. Ich kann sogar sagen, dass diese Figur in meinem Stück sozial gewalttätig wird, in dem Sinne dass wir uns als Menschen immer anpassen müssen, um das zu sein, was die Gesellschaft will oder braucht. Wir haben keine Wahl in der Gesellschaft, nur wenn wir ihre Regeln respektieren.

Wir haben hier eine Welt des Hörens für die Opfer von Schizophrenie aufgebaut, weil die auditive Halluzination ein Hauptpunkt des Stücks ist. – Cheong Kin I

Was erwarten Sie von der Aufführung dieses Projektes in Taiwan?

Der Versuch, eine imaginäre Welt der Schizophrenie aufzubauen, bedarf einer Handlung, die 60 Fragmente umfasst. Dies ist in Macau nicht sehr gewöhnlich. Daher müssen die Zuschauer Macaus das ganzes Stück einmal komplett sehen, um es einschließlich die Charaktere verstehen und verarbeiten zu können.

Gibt es Unterschiede zwischen dem Publikum in Macau und Taiwan?

Die Zuschauer Macaus sind eher daran gewöhnt, etwas lineares zu sehen. Aber hier bin ich nicht daran interessiert, einen Höhepunkt für eine Geschichte zu schaffen, weil ich eine Banalität des Lebens erschaffe, die schließlich doch nicht so banal ist. Es ist beispielweise wie die Fantasie über die Liebe, die Absurdität des Lebens oder das Leiden des Überlebens. Ich nehme die Fragmente des Lebens, um die verschiedenen Zustände eines banalen Lebens, dass wir alle leben, aufzubauen und darzustellen. Im Gegensatz dazu ist das taiwanesische Publikum an solche Handlung eher gewöhnt. Es ist ein Publikum, dass gerne nachdenkt und errät, was es sieht. Dies hat mit der generellen Bildung auf der Insel zu tun, die unabhängiges Denken fördert und ermöglicht.


Warum ist die Premiere in Macau erst nächstes Jahr?

Aufgrund der Pandemie. Nach den Maßnahmen der Regierung würden wir die Sitze der Zuschauer halbieren müssen, und nach zwei Jahren der Vorbereitung wäre es sehr frustrierend, ein ganzes Theater halb leer zu sehen. Wenn wir das Stück mehrfach aufführen, gleichzeitig aber nicht möchten, dass die Ticketpreise für die Zuschauer nicht steigen, würden wir Geld verlieren. Während der Pandemie ist die Aufführung von Theaterstücken sehr schwierig und außerdem sind deswegen gute Stücke weniger sichtbar.

Befürchten Sie negative Auswirkungen auf die Aufführung des Stücks in Taiwan unter Berücksichtigung der politischen Frage?

Macau ist nicht Festlandchina und das Festlandchina ist nicht Macau. Wir haben da noch keine Probleme. Außerdem hat das, was ich tue, nichts mit Politik zu tun, sodass es keine negativen Auswirkungen haben könnte. Als ich 2018 „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ aufführte, bei dem es nicht um Politik, sondern um Liebe ging, lud ich absichtlich Schauspielerinnen und Schauspieler aus Macau und Taiwan ein. Sprecher beider Sprachen, Kantonesisch und Mandarin, verstehen sich nicht, ohne die Sprachen zu lernen. Aber es hatte nichts mit Politik zu tun. Es war eine Art, die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen Liebenden kreativ neu zu erfinden. Macau ist kein Ort, wo politische Sensibilität im Vordergrund steht, wie es in Hongkong der Fall ist. Darüber hinaus ist Taiwan ein sehr offenes Gebiet und umfasst alle Arten von Meinungen. Wir haben gar keinen politischen Druck.

Das Interview auf Portugiesisch wurde am 15. November 2020 in der portugiesischsprachigen Tageszeitung “Hoje Macau” veröffentlicht. Fragen wurden auf Portugiesisch gestellt und Antworten auf Kantonesisch gegeben. Die Kommentare von Cheong Kin I wurden von Cheong Kin Man ins Portugiesische und jetzt ins Deutsche übersetzt.

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